Pflanzenfarben, Mineralfarben und Erden unterscheiden sich in Bezug auf ihre stofflichen Eigenschaften und Wesensmerkmale deutlich von den synthetischen Farben. An dieser Stelle soll ein kleiner Ausblick auf die wesentlichen Merkmale der verschiedenen Farben gegeben werden. Aber nicht durch Theorie sondern nur durch praktische Handhabung lassen sich die Unterschiede der Farben unmittelbar und nachhaltig erleben.
BELEBEND
Pflanzenfarben sind etwas Besonderes. Es sind wunderbar harmonische und meisterhafte Kompositionen verschiedenster organischer Farbstoffe. Stimmungsvoll und belebend entstehen sie jedes Jahr neu, im Rhythmus der Natur.
Aus den unterschiedlichsten Pflanzenteilen wie Wurzeln, Blättern und Blüten werden sie gewonnen. Sie sind die Lichtgeborenen, Wandelbaren, Vergänglich-Flüchtigen und Empfindlichen unter den Farben.
Sie eignen sich hervorragend zum Malen. Wolle und Seidengewebe können farbkräftig mit ihnen gefärbt werden. Bei wechselnden Lichtverhältnissen changieren sie in feinen Nuancen, ein Ausdruck ihrer Lebendigkeit.
ERDEND
Die Farben der Mineralien üben eine ganz andere Faszination aus. In der Dunkelheit der Erde entstehen sie aus flüssig-gelartigen Zuständen, druck- und temperaturabhängig. Ganz im Verborgenen entwickeln sie sich in unendlicher Langsamkeit zu Bodenschätzen.
Ihre Farbtiefe und ihren Variationsreichtum präsentieren sie erst am Licht in kristallinen ausdrucksstarken Formen und Arrangements. Sie sind die Erdenden, Beständigen und Unempfindlichen unter den Farben.
An Bauwerken und auf
Gemälden überdauern Farben aus Mineralien und Erden sehr große Zeiträume. Als Malfarben wirken sie tragend und füllend und gewinnen besondere Brillianz durch ölhaltige Bindemittel.
NATURFREMD
Die synthetisch-organischen Farbsubstanzen werden vor allem aus Bestandteilen des Erdöls hergestellt, bei speziellen Drücken und Temperaturen und unter erheblichem energetischen Aufwand. Sie sind
die molekular Definierten, Reproduzierbaren, bestechend Eindeutigen, doch Naturfremden unter den Farben. Sie können bei empfindlichen Menschen allergische Reaktionen auslösen. Durch
Kleinstlebewesen sind sie nur bedingt abbaubar und werden also nicht vollständig in die natürlichen Kreisläufe zurückgeführt. Gleichwohl sind sie aus vielen Bereichen unserer modernen Welt nicht
mehr wegzudenken.
Die ältesten Funde des malerischen Ausdrucks der Menschen sind die mit ERDFARBEN gemalten Tierdarstellungen in Höhlen Indonesiens, Spaniens, Frankreichs und anderer Länder. Es sind sehr beeindruckenden Zeugnisse aus der prähistorischen Zeit. Farbproben belegen, dass neben verschiedenen Erden auch durch Verkohlung entstandene schwarze Farben pflanzlichen und tierischen Ursprungs eingesetzt wurden. Spätere Funde aus der Antike weisen die Verwendung von PFLANZENFARBSTOFFEN aus Krapp, Indigo und Safran nach. Neben den mineralischen Farben wurden sie vor allem in kultischen und herrschaftlichen Bauwerken zur Wandbemalung verwendet.
Mit der Buchmalerei etwa 200 Jahre nach der Zeitrechnung gewannen die Farben aus Pflanzen an Bedeutung. Auf die mineralischen Farben aufgetragen, krönten sie die reich bebilderten und verzierten Pergamente mit ihrer lebendigen Farbigkeit. MINERALISCHE FARBEN waren wegen ihrer Lichtechtheit zwar favorisiert, doch die Palette der pflanzlichen und tierischen Farbstoffe wurde stetig bereichert, besonders durch Handelsprodukte aus dem Orient und Amerika. Man beherrschte mittlerweile die Verlackung der pflanzlichen und tierischen Farben und erzielte auf diese Weise eine verbesserte Lichtechtheit.
Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich, initiiert durch den Chemiker Friedlieb Ferdinand Runge (1795-1867), die Synthese organischer Farben aus dem Teer der Steinkohle , einem fossilen Verwitterungsprodukt von Holz. Die neuen SYNTHETISCHEN FARBEN hatten eine bestechende Leuchtkraft und Klarheit. Pflanzliche und tierische Naturfarben wurden in der Malerei und Färberei immer seltener verwendet. Um 1930 als von der BASF ein neues Bindemittel aus Acrylsäureestern entwickelt war, kamen Acrylfarben als Wandfarben in den Handel. Seit etwa 1960 sind Acrylfarben als Künstlerfarben auf dem Markt und bis heute die bevorzugten Farben vieler Maler und Künstler.
Zeitgleich mit der Entwicklung der synthetischen Farben erlebten die Farben der Pflanzen zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Wiedergeburt. Rudolf Steiner, der ihre besondere Lichtqualität zu schätzen wusste, initiierte ihre Herstellung und ließ die Innenräume des ersten Goetheanums damit ausmalen. Ein bekannter Pflanzenfarbenentwickler am Goetheanum war Günther Maier. Einer der weniger bekannten war der Pflanzenfarbenforscher und Künstler Winfried Johannes Zastrow. Heute gibt es einige wenige Unternehmen, die Pflanzenfarben vertreiben bzw. ihre Herstellung weiterentwickelt haben.
Durch ein wachsendes Bewusstsein und eine zunehmende Empfänglichkeit für die Natur, die Umwelt und das Klima, erfahren die Farben der Pflanzen zur Zeit eine zunehmende Wertschätzung und einen breiteren Einsatzbereich. Pflanzenfarben beeindrucken durch ihre natürliche Harmonie und ihre lebendige Leuchtkraft. Sie werden vielfach in der Therapie und im pädagogischen und heilpädagogischen Bereich eingesetzt. Sie erfreuen sich zunehmender Beliebtheit als Farben zur Wandgestaltung, zum Färben von Stoffen und als Künstlerfarben. Aber auch als Lebensmittelfarben werden sie geschätzt und vermehrt verwendet.